D. Toner (Hrsg.): Alcohol in the Age of Industry, Empire, and War

Titel
Alcohol in the Age of Industry, Empire, and War.


Herausgeber
Toner, Deborah
Erschienen
London 2021: Bloomsbury
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
£ 140.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mareen Heying, LWL - Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster

„This volume examines alcohol production, consumption, regulation, and commerce, alongside the gendered, medical, religious, ideological, and cultural ideas and practices that surrounded alcohol.“ (S. 1) So legt die Herausgeberin Deborah Toner das Ziel des englischsprachigen Sammelbandes einleitend fest. Der breite Ansatz wird für die Zeitspanne 1850 bis 1950 verfolgt, denn die Periode war „transformative for the history of alcohol around the world“ (S. 1). Toner zufolge wurde in dieser Periode die globale Bedeutung von Alkohol neu bestimmt. Alkohol wurde politisiert, reguliert und debattiert, zugleich konsumiert und an Trinkorten sozialisiert, auch wurde versucht, ihn zu bekämpfen. Gesellschaftliche Veränderungen, die durch Alkohol stattfanden, zeigen laut Toner: „alcohol also made the modern world“ (S. 20).

Anhand der Felder Industrialisierung, Imperium und Kolonialismus sowie Krieg gibt Toner einen gelungenen historischen Überblick über die Geschichte alkoholischer Getränke im Untersuchungszeitraum und stellt den Forschungsstand für den englischsprachigen Raum vor.1 Bisher wandte sich die Geschichte des Alkohols Anti-Alkoholbewegungen, der medizinischen Behandlung Alkoholkranker und den Auswirkungen der Moderne auf die sozialen Normen des Alkoholkonsums zu. Der Befund gilt auch für den deutschsprachigen Raum.2 Zudem wurde hier intensiv das Trinken in der Arbeiterschaft untersucht.3 Ein neues geschichtswissenschaftliches Forschungsinteresse an „Drinking Studies“ zeigt sich in Deutschland an aktuell entstehenden Qualifikationsarbeiten im Feld.4 Wie breit die englische Geschichtswissenschaft sich gegenwärtig dem Thema widmet, unterstreicht der Sammelband, in dem einige Kapitel durchaus einen Handbuch-Charakter haben. Neben der Einleitung von Toner umfasst er acht Kapitel von Historiker:innen und einem Geographen, die sich im Feld der „Drinking Studies“ bereits etabliert haben. Die Autor:innen widmen sich vornehmlich dem europäischen und dem nordamerikanischen Raum, doch es werden konsequent transnationale Bezüge hergestellt, keine Weltregion wird ausgespart. So unterstreicht der Band die globale Entwicklung und Bedeutung von Alkohol und macht Lust auf mehr Studien aus anderen Ländern. Dabei gelingt es nicht allen Autor:innen gleich gut, über den europäischen Kontinent hinaus zu blicken.

Andrew McMichael verdeutlicht im Kapitel Production, wie sich die Entwicklung von Dampfkraft und Kühlmöglichkeiten auf die Herstellung von Alkohol auswirkten und neue Transportmöglichkeiten auf die Distribution. McMichael hebt hervor, wie Technikgeschichte und Alkoholgeschichte sich gegenseitig bedingen. „The effect of scientific advances on the industrialization of alcohol production cannot be overstated“ (S. 23).

Der Geograph James Kneale untersucht im Beitrag Consumption, wie Alkohol die soziale Ordnung zeitgleich unterstützen oder bedrohen konnte und wie sich von 1850 bis 1950 Trinkorte spezialisierten (S. 43f). Kneales Beitrag diskutiert Forschungshürden und -fragen, etwa, dass individueller Konsum kaum über Quellen erschließbar ist. Denn Statistiken über den Konsum sagen nichts darüber aus, wer, wann, wie und mit wem Alkohol trank (S. 45–48).

Dan Malleck zeigt in Prohibition and Regulation, mit welchen Verordnungen versucht wurde, in den USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich und Russland den Alkoholkonsum zu regulieren bzw. einzudämmen.

Gina Hames Beitrag Commerce stellt den Wandel im Alkoholhandel und -vertrieb vor. Hames zeigt zum Beispiel auf, wie sich der Beginn der Werbung auf den Konsum auswirkte, wie der schottische Whisky zum „elite drink“ wurde, wie spanische und italienische Einwanderung nach Argentinien die dortige Weinindustrie beeinflussten und die deutschen Einwanderer die Bierindustrie in den USA. Sie diskutiert einen Wandel durch das in den 1930er-Jahren in den USA erfundene Dosenbier und durch „Ladies Drinks“, die dazu dienten, Frauen an Alkohol heranzuführen.

Sarah W. Tracy diskutiert im Kapitel Medicine and Health den medizinischen Wandel in der westlichen Welt in Bezug auf Alkohol und fragt, was ein gesunder Körper ist. 1860 noch wurden Wein und Brandy in den USA als stimulierende Therapien gewertet, kurz darauf öffneten dort erste Heilstätten für Alkoholiker.

Stella Moss zeigt, wie Alkoholtrinken als kultureller Akt durch Regeln geformt wurde, die durch Kategorien wie Gender, Class, Ethnizität etc. bestimmt waren. Sie kritisiert die geschichtswissenschaftliche Tendenz, anzunehmen, der Trinker sei männlich. Da Frauen aus Kneipen und Pubs ausgeschlossen wurden, haben sie sich, so Moss, eigene Trinkorte gesucht. So wurden in den 1920er-Jahren in den USA private Cocktail-Partys bedeutend für das „domestic entertaining“ (S. 146).

Paul Townend und Deborah Toner untersuchen in Religion and Ideology, wie sich christliche Einflüsse auf die Anti-Alkoholbewegungen auswirkten. Auch wenn sie in verschiedenen Ländern agierten, stimmten die Bewegungen darin überein, Alkohol als Wurzel des moralischen Übels in der Gesellschaft zu bewerten. Anti-Alkohol-Kampagnen waren nicht nur ein Mittelklassen-Phänomen, sie agierten auch über kirchliche Einrichtungen hinaus, bis hin zu säkularen Arbeiterorganisationen.

Im letzten Kapitel geht Deborah Toner auf Cultural Representations von Alkohol ein und greift einige der aufgeworfenen Aspekte der anderen Kapitel und ihrer Einleitung erneut auf: Sie unterstreicht den Bedeutungswandel von Alkohol von 1850 bis 1950 und zeigt verschiedene Narrative und Zugschreibungen in Kunst, Literatur und Film auf.

Alle Autor:innen stimmen darin überein, dass der Erste Weltkrieg einen globalen Bruch im Umgang mit Alkohol evozierte. Zudem wird deutlich: Alkohol funktioniert als ein Vehikel, um gesellschaftliche Prozesse besser zu verstehen. Die Relevanz, die Kategorien „Klasse“ und „Geschlecht“ in den Blick zu nehmen, zeigt sich in jedem Kapitel, Fragen der Migration in vielen Unterkapiteln. Einzig Fragen von Jugend bzw. Jugendschutz und Alkohol fehlen in dem Sammelband.

Die umfassende Bibliografie von zwölf Seiten verweist auf die breite Forschung zum Feld der „Drinking Studies“. Die meisten Titel sind englischsprachig, einige haben transnationale Blickwinkel. Wenn sich Autor:innen auf den deutschen Raum fokussieren, verweisen sie stets auf die Arbeit von James Roberts, der auf Englisch publizierte.5 Dies bedeutet für neue Alkoholforschung zum deutschsprachigen Raum, dass sie vermutlich auch auf Englisch veröffentlicht werden muss, um international bemerkt zu werden.

Wer von dem Forschungsfeld der „Drinking Studies“ noch nicht überzeugt ist, lese dieses Buch, da es viele wichtige Forschungsfragen rund um alkoholische Getränke aufwirft und Schnittstellen zu anderen Forschungsfeldern markiert. Wer Zweifel hat, dem Feld könne die Relevanz fehlen, wird diese nach der Lektüre ablegen. Wer in die „Drinking Studies“ einsteigen möchte oder sich weiter vertiefen will, wird „Alcohol in the Age of Industry, Empire, and War“ ebenso schätzen, da die einzelnen Kapitel gelungene Forschungsüberblicke und viele neue Denkanstöße geben.

Anmerkungen:
1 Zum US-amerikanischen Raum für die Zeit bis 2004 findet sich hier ein guter Forschungsüberblick: Sarah W. Tracy / Caroline J. Acker, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Altering American consciousness. The history of alcohol and drug use in the United States, 1800–2000, Amherst, Mass. 2004, S. 1–30, hier S. 11–14.
2 Fabian Brändle / Hans J. Ritter, Zum Wohl! 100 Jahre Engagement für eine alkoholfreie Lebensweise, Basel 2010; Thomas Welskopp, Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition, Paderborn 2010; Hasso Spode, Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland, Opladen 1993.
3 Siehe etwa: James S. Roberts, Der Alkoholkonsum deutscher Arbeiter im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, 6 (1980), S. 220–242; Ulrich Wyrwa, Branntewein und „echtes“ Bier. Die Trinkkultur der Hamburger Arbeiter im 19. Jahrhundert, Hamburg 1990.
4 Einen Überblick zum Feld der deutschsprachigen Drinking Studies gab die Tagung „Gefährlicher Genuss? Getränke und Trinkpraktiken seit der Frühen Neuzeit“. Tagungsbericht von Lisa Weber, in: H-Soz-Kult, 22.12.2022, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-132533 (18.11.2023). Folgende Habilitationsschriften (Arbeitstitel) entstehen aktuell: Mareen Heying (Münster): Trunkenbolde. Kontrolle und Vergnügen des alkoholisierten Rausch-Körpers seit dem 19. Jahrhundert; Lisbeth Matzer (München): Europe in and through the Wine Bottle; Jana Weiß (Münster): The Lager Beer Revolution in the United States: The History of Beer and German-Americans as a Reinvention of Ethnicity, Knowledge, and Consumption; Sina Fabian (Berlin): Ambivalenter Genuss. Alkohol in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus.
5 James S. Roberts, Drink, Temperance and the Working Class in Nineteenth Century Germany, Boston 1984.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch